Lärm im Spiegel

von Erich Kästner

Zum Zyklus „Lärm im Spiegel“, sechs Lieder aus Erich Kästners gleichnamigem Gedichtband

Erich Kästner als Dichter von leichtfüßig daherkommenden Versen, die doch inhaltlich eher melancholisch-pessimistisch oder auch bissig-kritisch sind, gehört zusammen mit Tucholsky, Brecht und Ringelnatz, stilistisch zur so genannten „Neuen Sachlichkeit“. Neue Sachlichkeit bedeutet Hinwendung zur Schlichtheit des Alltäglichen und damit literarisch: keine hochtrabende poetisierende Sprache, keine abgehobenen Gedanken, sondern bewusst Einfaches. Man thematisiert den Alltag und die Sorgen der „kleinen Leute“, zu denen ja auch Kästners Eltern gehören, deren Nöte aber oft riesengroß sind und deren Tragik sich fernab aller Theatralik im grauen Einerlei verbirgt. Ganz typisch dafür ist der Anfang des ersten Gedichts:

Als sie einander acht Jahre kannten,
Und man kann sagen, sie kannten sich gut,
Kam ihre Liebe plötzlich abhanden
Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.

Neue Sachlichkeit bei Kästner bedeutet kurze, trockene Aussagen und knappe Überschriften, die an sich banale Elemente einander so zuordnen, dass ein die Neugier des Lesers reizendes Paradoxon entsteht. Dieser journalistische Stil, angewendet auf Lyrik, ist dann selbst schon paradoxal. Typisch hierfür sind auch die Titel dieser Gedichte: Sachliche Romanze, Repetition des Gefühls, Die moralische Autodroschke, Eine Mutter zieht Bilanz  … sowie ja auch schon der Name dieser Sammlung Lärm im Spiegel .

Aus dieser Sammlung stammen die sechs hier vertonten Gedichte, die sich dadurch auszeichnen, dass sie ganz persönliche Lebenssituationen des 30-jährigen Kästner in seinen Anfangsjahren in Berlin thematisieren. Es geht um Vereinsamung, Enttäuschung, vergebliche Hoffnung oder Orientierungslosigkeit, die in einer eher alltäglichen Situation plötzlich hervortreten. Auf diesen Moment der Wahrheit als Kern der Gedichte steuert der Text zu, um mit einer Enttäuschung zu einem pessimistisch-melancholischen Ende zu führen, das in einen unverändert grauen Alltag hinausweist.

Damit ist für die Vertonung die Struktur vorgegeben.

A. Eine erste Zeile umreißt die emotionale Ausgangslage der betreffenden Person(en) und sollte mit der traditionellen Liedeinleitung durch das Klavier solo etabliert werden, um des Weiteren als Hauptbegleitung zu funktionieren.

B. Ein anscheinend unbedeutendes Ereignis lässt die „Wahrheit“ bzw. den Konflikt hervortreten und bekommt somit musikalisch ein ganz anderes Gesicht.

C. Das Ergebnis ist am Ende Enttäuschung, Frustration, Aporie … Hier ist der Moment für den Komponisten, um in einem etwaigen Nachspiel die Gefühle des Zuhörers aufzufangen, bzw. hinauszugeleiten.

Wie Erich Kästner mit seiner schlichten, bewusst alltagssprachlichen Textgestaltung verwendet auch diese Vertonung alltägliches Material, d.h. gängige Harmonien und insgesamt eine traditionelle Musiksprache in dem Bestreben, „unmittelbar brauchbar“ zu sein, so wie es Kästner von seiner Dichtung sagt, zugleich aber so wie er, der emotionalen Tiefe des Dargestellten gerecht zu werden.

Von den sechs hier vereinten Liedern schildern vier wirklich traurig-tragische Momente. Sie werden unterbrochen von einer ironischen Schneeidylle und am Ende steht ein bedingt positives Einschlaflied.

Hartwig Riedl

I. Sachliche Romanze

Die Sachliche Romanze   habe ich an den Anfang dieses kleinen Zyklus gesetzt, weil sie mir mit ihrem (pseudo-)gemütlichen erzählerischen Grundton die Zuhörer gut einstimmt auf den größeren Zusammenhang dieses musikalischen Reigens von sechs Liedern.

Das sich entfremdet habenden Liebespaar, das in seiner wortlosen, tragisch nebeneinander durchlittenen Einsamkeit keinen Ausweg kennt, spiegelt Kästners einzig große Liebe zu Ilse Julius, mit der er acht Jahre eng verbunden war, bis sie sich endgültig zerstritten und trennten. Abgebrochene Phrasen, instabile harmonische Folgen: vom ersten Takt an wird das gestörte Verhältnis dieses kommunikationslosen, dennoch aufeinander fixierten Paares musikalisch illustriert.

Der Tiefpunkt ihrer Gefühlsleere ist der Moment, wo nach „versuchten Küssen, als ob nichts sei“  (Phrase des Klaviers ins harmonische Leere), sie „nicht weiter wissen“ (orientierungslose harmonische Rückung zu einem zweideutigen Akkord mit Fermate) und darauf die junge Frau „schließlich  (Zwischenspiel!) weint“  und damit sozusagen anbietet, sie endlich(!) in die Arme zu nehmen (zartes H-Dur im Klavier). Doch er „steht dabei“ , die Hände sozusagen in den Hosentaschen, (unverbundene harmonische Rückungen zu einem mit Vorhalten „verdorbenen“ E-Dur Akkord).

Eine Flucht ins Café führt auch nur zu einem stundenlangen, wortlosen Rühren in ihren Tassen, während –  auf musikalische Weise „wortlos“ – die Sängerin den Schlusskommentar („und konnten es nicht fassen“ ) zu einem fragenden Quartsextakkord nur sprechen darf. Der süße, hohe Schlussakkord besagt, dass die beiden ironischer Weise eigentlich gut zueinander passen.

Sachliche Romanze - Audio

II. Die sehr moralische Autodroschke

Erich Kästner, zu seiner Zeit ein notorischer „Womanizer“, schildert hier eine nicht ausgenutzte verführerische erotische Situation: ein Mann bringt eine hübsche, verheiratete Frau im Taxi nach Haus: Die sich aus einem zweideutigen Motiv entwickelnde absteigende Linie im Diskant erreicht erst an ihrem Ende das angezeigte A-Dur. Wenn nun der Sopran diese Expositionszeile singt, begleitet das Klavier ihn mit reinen A-Dur-Harmonien im Diskant, hübsch gemachte Sterne suggerierend.

Später, wenn in den Kurven sich ihre Knie berühren und sie vor Erregung zittern, dabei aber sich krampfhaft von der erotischen Implikation ablenken, hat das Klavier das kristallklare A-Dur verlassen und etabliert – zwischen verführerisch-weichem B-Dur und d-Moll changierend – eine mystische Atmosphäre.

Am Ziel angekommen „retten“ sich die Beiden mit einem förmlichen Handschlag: der Mann denkt, alles sei gut (hinterfragt durch eine offene Harmonie im Klavier), doch zu Hause bricht seine Wut zu disharmonischen Akkorden hervor ob der verpassten Gelegenheit: das Klavier findet keine Schlussharmonie, lässt aber dann zögerlich im zarten Diskant eine versöhnliche Erinnerung an die magischen Knieberührungen im Taxi anklingen.

Die sehr moralische Autodroschke - Audio

III. Meier IX. Im Schnee

Kästner liebte die winterlichen Alpen. Das zeigt die von ihm erdachte, heitere und so beliebte Schneeromanze „Drei Männer im Schnee“ und – sozusagen als Kontrastprogramm – dieses und ein weiteres sarkastisches Gedicht über den abstrusen Umgang Berliner Großstädter mit Winterurlaub in den Alpen.

Hier, mit „Meier IX.“ , karikiert Kästner einen typischen großstädtischen Jedermann, wie er in den Alpen einsam und fremdelnd mit nassen Füßen im fallenden Schnee steht. Wie fehl er dort am Platz ist, zeigt eine Folge von abstrusen Gedanken anlässlich der ihn umgebenden winterlichen Schönheit.

In einer Art Rondo zeichnet die Klavierbegleitung die Ballett tanzenden Schneeflocken: hoch im Diskant angesiedelte kristalline Arpeggien (Schnee kommt von oben!) in der rechten Hand, die sich aus einem kühlen G-Dur entwickeln, werden links in einem bassetto  in einer absteigenden Sequenz (der Schnee sinkt hernieder!) ergänzt.

Diese flockig-leichte musikalische Szenerie, die fünfmal wiederkehrt und die sozusagen den nonchalanten Kästnerton darstellt, führt jeweils durch eine unbeholfene harmonische Rückung zu rezitativischen Einschüben (vorwiegend in b-Tonarten), in denen das Klavier wenig elegant die verquer-banausenhaften Gedanken Meiers begleitet. Meier beängstigt die winterliche Stille, die ihm Schlaflosigkeit bereiten wird. Und so äußert er abschließend den sehnsüchtigen Wunsch nach einer baldigen Rückkehr zum Krach von Berlin, ironisch kommentiert im Klavier mit einer leisen, süßen Schlusskadenz.

Meier IX. Im Schnee - Audio

IV. Repetition des Gefühls

Das Gedicht beginnt wie folgt: Nach vielen Jahren schaut sie – auf der Durchreise in die Berge – bei ihm für eine Nacht vorbei. Ist die gegenseitig bemerkte Blässe ein Alterszeichen oder vielleicht vielmehr nervöse Erwartung? Plötzliche Stimmungsschwankungen bei der Frau und ihre zu sehr betonte Bemerkung, dies sei nur eine Stippvisite, verstärken den Eindruck einer nervösen Erwartungshaltung der einstigen Geliebten des Mannes.

Die Vertonung beginnt mit einer kurzen Einleitung des Klaviers im Erzählmodus. Dann finden die in der Exposition geschilderten zwiespältigen Gefühle der beiden eine Entsprechung in dem instabilen Harmoniegefüge (Hochalterierungen, Rückungen) des Klavierparts.

Dieses ändert sich jedoch vollkommen, als er – auf ihr Unwohlsein und ihre Tränen reagierend – ihr über die Haare streicht. Und dieses führt zu einer Liebesnacht „wie einst“ . Hier beginnt das Klavier plötzlich leicht zu swingen mit einer Blues-Figur links und lieblichen Harmonisierungen rechts. Kästner belässt es bei diesem diskreten „Wie einst“ . Den Raum, den Kästner hier lässt, füllt dafür ein zartes, in der Höhe angesiedeltes Zwischenspiel des Klaviers. Hier darf das Klavier auf keinen Fall beschleunigen; Tempo wäre hier völlig unangebracht, denn über allem liegt ein Hauch von Unsicherheit, Zärtlichkeit und Resignation.

Letztere zeigt sich in dem zweideutigen Akkord, mit dem dies nächtliche Intermezzo endet. Und eine abrupte harmonische Wendung leitet die dürre Schilderung der Ernüchterung des nächsten Morgens ein. Nur über dem langen Schlusston der Stimme gibt es im Klavier ein erinnerndes, zart swingendes Echo der vergangenen Nacht.

Repetition des Gefühls - Audio

V. Eine Mutter zieht Bilanz

Diese Klage einer vereinsamten Mutter über die Vernachlässigung durch ihren im entfernten Berlin wohnenden Sohn ist ein Gegenentwurf zu Kästners Verhältnis zu seiner Mutter, der er so lange sie lebte täglich (!) einen Brief schrieb und der er stets seine Wäsche zum Waschen schickte, um ihr ihre Wichtigkeit für ihn feinfühlig zu beweisen.

Im Gegensatz zu dem Begriff „Bilanz“ in der Überschrift, der eine einmalige, abschließende Feststellung nahelegt, geht die Vertonung davon aus, dass ihre Klage eine zur Gewohnheit gewordene Grundhaltung der Mutter darstellt und verharrt zunächst gebetsmühlenartig in einem engen Ton- und Harmonieraum.

Ihr kühner Entschluss, eine Fahrkarte nach Berlin zu kaufen, lässt die Harmonien aufblühen, die mit dem kleinmütigen Abbruch des Reiseplans abrupt in sich zusammenfallen.

Mit der Erwähnung seiner Braut unterlegen Stimme und Klavierpart ein zickiges Eifersuchtsgemecker. Und die Idee, sich mit einem selbstgestickten Kissen in der Wohnung des Paares zu verewigen, fällt darauf in einem schrägen chromatischen Abgang in sich zusammen.

Die abschließende nostalgische Erinnerung an die glücklichen Tage seiner Kindheit geben der hier wieder aufgenommenen Vertonung des Anfangs nun eine melancholische Färbung. Das in zarteste Höhen führende Nachspiel mit seiner sich über das gehaltene Pedal zum Wohlklang in schlichtestem Es-Dur (der traditionellen Liebestonart) formenden Unisono-Akkordbrechung verklärt abschließend ihren unerfüllbaren, aber unverrückbaren Wunsch einer ewigen Kindheit ihres Sohnes.

Eine Mutter zieht Bilanz - Audio

VI. Lob des Einschlafens

Das Gedicht Lob des Einschlafens  ist weniger ein Lob als eher die Schilderung der Probleme, nicht einschlafen zu können in einem billigen Zimmer zur Untermiete, wie es Kästner in seinen Berliner Anfangsjahren selbst erlebte: Die extrem hellhörigen Wände lassen ihn nicht zur Ruhe kommen wegen eines laut lachenden Nachbarn mit seinem Damenbesuch mit hartbesohlten, lauten kleinen Schuhen. Dazu quälen ihn sich aufdrängende Lebenszweifel und der Verlust kindlicher Unschuld, mit der er einst nach dem Gebet „Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein“ prompt in den Schlaf fiel. Höhepunkt der Schlafhindernisse ist ein wiederkehrender Alptraum beim ersten richtigen Wegdämmern, der ihn hochjagen lässt. Letztlich dann behilft sich der müde Dichter mit Schäfchenzählen und ist schließlich bei Nummer 73 eingeschlafen.

Die Basis der Vertonung ist ein sanft wogendes 6-Achtel-Arpeggiomotiv in der rechten Klavierhand (über dem ¾-Grundmetrum links), welches durch die immer wieder überkreuzende linke Hand harmonisch übermäßig oder mit der Blues-Terz ins Ungefähre erweitert wird. Es kehrt rondomäßig wieder und suggeriert den Halbdämmerzustand des Wegsackens, welches immer wieder musikalisch abrupt unterbrochen wird (fremde Tonarten; harsche Harmonien als Höhepunkt bei dem Auftauchen des „Schwarzen“ ) bis es am Schluss extrem ritardierend ausrollt und somit sinnvoll das letztlich erfolgreiche In-den-Schlaf-Fallen darstellt.

Lob des Einschlafens - Audio

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